zur StartseiteWishlist-Startseite

Verfassungsrichter als Krypto-Promotoren

Version 1.1, 15.06.2014

Eins der großen Probleme für das Entstehen einer geeigneten Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen ist, dass offenbar kaum jemand – jedenfalls kaum wichtige Leute, Leute mit gesellschaftspolitischer Strahlkraft und Vorbildcharakter – zu erfassen scheint, in welchem Ausmaß der demokratische Rechtsstaat durch die unkontrollierte Massenüberwachung gefährdet wird. Zusammen mit der – vergleichsweise zutreffenden – Einschätzung, dass man selber von der NSA und Konsorten nichts zu befürchten habe, und der Ignoranz des Umstands, dass dieselben Schutzmaßnahmen schon gegen die allgegenwärtigen, schnöden Computerkriminellen benötigt werden, kommt dann das Ergebnis zustande, dass in guter Näherung überhaupt niemand irgendwas macht.

Es ist ungemein aufwendig und damit langsam, die für eine Massenqualifizierung entscheidenden Instanzen – vor allem Hochschulen und Schulen – durch eine recht kleine und kaum organisierte Bewegung von unten jeweils einzeln zunächst zu überzeugen und dann womöglich auch noch darin zu unterstützen, etwas zu tun. Damit die Masse der Informatik-Fakultäten und Informatiklehrer reagiert, ist ein Anstoß (eher mehrere) von respektierter Seite vonnöten: Ein Angebot, das sie nicht ablehnen können. Aus der Politik kommt so etwas derzeit nicht; am ehesten darf man es wohl vom Bundespräsidenten erhoffen.

Sensibilisierung qua Amt

Seit Jahrzehnten kippt das Bundesverfassungsgericht Gesetze und Gesetzesauslegungen, weil sie die grundgesetzlich vorgegebene Qualität an Freiheit und Demokratie gefährden. Oftmals ist diese Gefährdung eher theoretischer Natur; man will es nicht erst darauf ankommen lassen. Die meisten dieser verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeiten nehmen sich in ihrer mutmaßlichen Wirkung neben der real existierenden Massenüberwachung und dem schier grenzenlosen technischen Potential an individueller Ausspähung wie die sprichwörtlichen Peanuts aus. Diese Peanuts werden mit der ganzen Härte der Rechtsstaatsverwaltung niedergestreckt; die Reaktion auf die echte Bedrohung: Schweigen im Walde.

Man darf nicht erwarten, dass sich der typische Richter am Bundesverfassungsgericht für Kryptografie, technische Finessen der Geheimdienste oder auch nur IT im allgemeinen besonders interessiert. Aber es drängt sich der Gedanke auf, dass diesen Leuten aus ihrer Arbeit heraus ohne weitere Erklärung klar ist, in welcher Liga die Snowden-Enthüllungen zu verorten sind, was hier auf dem Spiel steht.

moralische Unterstützung

Man kann vom Bundesverfassungsgericht nicht erwarten, dass es sich abseits seiner Aufgaben plötzlich für die technische Qualifizierung der Bevölkerung einsetzt. Was man aber erwarten kann, ist ein dezenter Beitrag, der nicht in der Masse der Bevölkerung Wirkung erzielt, aber an den richtigen Stellen, nämlich bei den bisher – warum auch immer – überwiegend untätigen Entscheidungsträgern im Bildungssystem und anderswo.

Es sollte deshalb von geeigneter Seite – wer immer das sein mag, der Verfasser eher nicht – an das Bundesverfassungsgericht die Bitte herangetragen werden, in ihm angemessen erscheinender Weise (etwa im Impressum) die deutliche Empfehlung gegenüber der Allgemeinheit ausgesprochen werden, sich mit sicherer Kommunikation vertraut zu machen – auch wenn die dafür naheliegende Technik für die Kommunikation mit dem Gericht womöglich gar nicht verwendet werden kann. Dieser Aufruf sollte aus mehreren Komponenten bestehen, um ihn einerseits aus technischer Perspektive gehaltvoll zu machen und andererseits deutlich werden zu lassen, dass man es ernst meint:

  1. Auf einer verlinkten Unterseite: ein einigermaßen pathetischer Text, der die Bedeutung von (speziell digitaler) Privatsphäre und Fernmeldegeheimnis für den Fortbestand der freiheitlichen Demokratie erläutert. Warum soll der Bürger sich kümmern, wenn er sich selbst gar nicht betroffen wähnt? Dieser Teil wäre wohl dann am eindrucksvollsten, wenn nicht bloß der Präsident diesen Text schriebe oder absegnete, sondern wenn viele, vielleicht sogar alle Richter die Abhandlung durch eine (kurze) persönliche Anmerkung ergänzten.

  2. Eine kurze technische Einführung, worum es geht, versehen mit Hinweisen, wie man sich dem Thema nähern kann (Links auf gute Anleitungen sowie auf die Cryptoparty-Übersichtsseite). Etwa in der Art dieser Seite.

  3. Für diejenigen, die die Verbreitung der Technik und der nötigen Kenntnisse unterstützen wollen (in erster Linie Leute, die die Technik schon nutzen), sollte es eine Sammlung von Anregungen geben, etwa in der Art dieser Seiten.

Diese Hinweise würden zwar nicht von vielen Leuten bemerkt, aber die technischen Aktivisten können darauf verweisen und dadurch vermutlich viel einfacher Erfolge an Hochschulen und Schulen erzielen. Auch dass der Bundespräsident sich in ähnlicher Weise engagiert, würde dadurch wahrscheinlicher.

Für die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit dieser Aktion wäre wohl nicht von Bedeutung, ob (und wann) die Richter sich selber entsprechende technische Kenntnisse aneignen.

Einwände

Mögliche Einwände dagegen:

Das ist alles korrekt, und natürlich kommt es nicht in Frage, dass ein Präzedenzfall geschaffen wird, durch den sich in Zukunft jeder mit seinem Anliegen an das Gericht wendet. Aber das ist nicht zu befürchten. Dieser Fall unterscheidet sich in mehreren gravierenden Punkten von üblichen Anliegen, die im weitesten Sinn politisch sind:

  1. Die Frage, welche Auswirkungen Massenüberwachung auf die freiheitliche Demokratie hat (oder haben kann), ist mindestens so juristisch wie politisch. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Betrachtungen – in vergleichsweise harmloser Form – in der Vergangenheit schon anstellen müssen.

  2. Der wohl entscheidende Punkt ist, dass dieses Problem einer juristischen oder im üblichen Sinn politischen Lösung gar nicht zugänglich ist, weil es sich hier um gravierend illegale Aktivitäten handelt. Die Betroffenen können nicht einfach vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ein deutsches Gesetz oder Aktivitäten der Bundesregierung vorgehen. Das Problem kann vermutlich gar nicht wirklich gelöst werden, sondern nur verringert werden – und auch das im wesentlichen auch nur technisch durch die einzelnen Bürger.

  3. Politische Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass es eine öffentliche Debatte und unterschiedliche Positionen gibt. Die politische Debatte, wenn man sie überhaupt so nennen mag, hat nun über ein Jahr lang die relevante Frage gekonnt vermieden: Was ist zu tun? Es ist von nachrangiger Bedeutung, warum das so ist. Neben noch unerfreulicheren Gründen dürfte das auch wesentlich daran liegen, dass die meisten Politiker über keinen entsprechenden technischen Sachverstand verfügen, aber auch selber das Ausmaß des Problems unterschätzen.

  4. Es geht darum, dem Bürger zu sagen, dass er in Gefahr ist, weil er das leider nicht selber merkt. Was man vielen Bürgern nachsehen kann, weil das Problem sehr abstrakt ist. Von welchem vergleichbar ernsten Problem kann man das behaupten?

  5. Das Einschreiten des Gerichts wäre das letzte Mittel. Es würde sich damit nicht vordrängen. Seit über einem Jahr reagiert die Politik nicht (nicht in Form einer konkreten Lösungsdiskussion), reagieren die Hochschulen und Schulen nicht, reagieren die Verbände der Berufsgeheimnisträger nicht in nennenswerter Weise, reagiert die Onlinewirtschaft nicht.

Richter, das dürfte auch für Verfassungsrichter gelten, sind an Recht und Gesetz gebunden. Das Gesetz konstituiert keine solche Zuständigkeit. Wie auch, wer hätte eine Situation, auf die die genannten Punkte zutreffen, hypothetisch vorhersehen und entsprechend vorbereiten sollen? Wie könnte es Recht sein, in einer derart dramatischen Situation untätig zuzusehen, wie alle anderen untätig zusehen, und das mit Formalitäten zu rechtfertigen? Zumal es nicht um einen spektakulären Auftritt, sondern nur um eine Kleinigkeit geht.

Umsetzung

Die spannende Frage bei diesem Vorschlag ist – wie schon gesagt: Wer (Person, Personengruppe, Institution) trägt dieses Anliegen an das Gericht heran, so dass es dort auch von den richtigen Leuten gelesen wird? Außerdem sollte den Lesern dort klar gemacht werden, welch großer Unterschied ihr kleiner Beitrag für die weitere Entwicklung sein kann, denn mit den Problemen der Privatsphäre-Aktivisten sind die Richter und ihre Mitarbeiter vermutlich wenig vertraut.

(alte) Versionen dieses Dokuments

[Hier ist die Seite zu Ende.]